Auf dem Marktplatz erfolgt die Mantelteilung

Auf dem Marktplatz erfolgt die Mantelteilung

Rund 400 Kinder zogen gestern Abend mit bunten Laternen durch die StadtGB-Foto: Holom

In der Herrenberger Innenstadt soll nichts los sein? Von wegen! Am Montagabend schieben sich dort Hunderte über das Kopfsteinpflaster, ist kaum ein Vorankommen, geht Mensch neben Mensch im dichten Getümmel. Das freilich hat seinen guten Grund: Der heilige Sankt Martin ist in der Stadt, er reitet voraus auf stolzem Ross, bald wird er seinen Mantel teilen. Sankt Martin hieß im täglichen Leben Martin von Tours, war Bischof der Stadt im französischen Département Indre-et-Loire, starb vor 1622 Jahren und drei Tagen im Alter von 81 Jahren. Er war ein Mann, der sich vom Soldatentum ab- und der Kirche zugewandt hatte, bei der Bevölkerung als Nothelfer und Wundertäter bekannt und beliebt; seine Beisetzung am elften November fand unter der Anteilnahme vieler Menschen statt. Lange zuvor schon, im Winter 334, hatte Martin, noch römischer Offizier, am Stadttor von Amiens im höchsten Norden Frankreichs seinen Mantel geteilt, um eine Hälfte des wärmenden Kleidungsstücks einem armen, frierenden Unbekannten zu schenken. Seit Jahrhunderten wird er wegen dieser Tat als Heiliger verehrt – und der Tag, der ihm gewidmet ist, ist ein Tag der Kinder, die mit ihren Laternen durch die Straßen ziehen und singen. In Herrenberg sind es gut 400 Kinder, die nach 18 Uhr hinter Sankt Martin hergehen – vom Nufringer Tor aus über den Marktplatz zum Bronntor nd im Bogen und wieder zum Marktplatz zurück. Dass es 400 Kinder sein mögen, das schätzt Charlotte Tremmel vom Herrenberger Gewerbeverein, der den Martinsumzug veranstaltet. Sie schätzt sehr bescheiden: Herrenberg ist in den rund anderthalb Stunden, die der Umzug dauert, ein Meer der Kinder. Die kleinen und noch kleineren Menschen stehen da, in der kalten Herrenberger Luft, die Schals bis zu den Ohren hochgezogen, die Mützen bis zur Nasenspitze herab, gehen aufgeregt umher im großen Gedränge, und halten alle eine Papierlaterne hoch. Diese Laternen, da kann man staunen, haben sich kaum verändert in den vergangenen 50 Jahren: Es ist derselbe gelbe Mond, der da vor einem blauen runden Himmel lacht, es sind dieselben Ziehharmonikafalten aus rotem oder grünen Papier, die am Stock wippen, hinter denen einen Kerze flackert.

Turmbläser spielenzum Laternenumzug

Erwachsene, Eltern, gehen zwischen den vielen Kindern, manche schieben Kinderwagen. An der ersten Station, am Bronntor, warten fünf Herrenberger Turmbläser mit Posaune, Baritonhorn, Trompete, Tuba, Flügelhorn. Sie spielten schon am Nufringer Tor, sie begleiten nun hier die Lieder, die die Kinder singen: „Laterne, Laterne“ beginnen viele kleine Stimmen gemeinsam, oder „Komm, wir wollen Laterne laufen“, „Licht in der Laterne“.

Abseits der großen Kinderschar steht Sankt Martin persönlich, zum vierten Mal verkörpert von Hans Sattler aus Affstätt, im Mantel hoch zu Pferde, Elmira heißt das Tier, das ruhig schnaubt. Der Zug setzt sich wieder in Bewegung, nun ist der Marktplatz das Ziel – dort wird es süße Speisen geben, warme Getränke, wird Martin seinen Mantel entzweischneiden. Wie der Bettler heißt, der den halben Mantel bekommt, das wissen weder Hans Sattler noch Charlotte Tremmel – aber eines steht fest: Er gehört der katholischen Kirchengemeinde an. Wie könnte es anders sein: zur Lebzeit des Martin von Tours war die Reformation in der Tat noch fern.

THOMAS MORAWITZKY