„Eine Lebensader für die Menschen hier“
Der Ausbau der A 81 ließ Gültstein stark profitieren. Doch anfangs gab es auch kritische Stimmen gegenüber der neuen Trasse zwischen Stuttgart und Singen. Ende 1978 war die Bodensee-Autobahn komplett fertiggestellt.
Lesedauer: ca. 4min 31secEs war im Jahr 1978, als die Euphorie im Gäu spürbar war: „Frei ist der Weg von der Landeshauptstadt über Neckar und Baar zum Bodensee. Vergessen das mühevolle Suchen nach der geeignetsten Route, das Klettern auf schmalen Serpentinen über Alb und Donautal. Nun ziert das breite Band der Autobahn die vielgegliederte Lücke zwischen Schwarzwald und Schwäbischer Alb und bringt uns schnell zum viel gerühmten Schwäbischen Meer“, hieß es in der Festschrift zur Einweihung der Autobahn A 81 zwischen Stuttgart und Singen, dem Teilstück, das auch als „Bodensee-Autobahn“ bezeichnet wird.
Das „wichtigste Ereignis des
Jahres 1978“, findet Landrat Heeb
„Der Bau dieser Autobahn hat für den Kreis mehr verändert, als alles, was sonst in den letzten Jahren passiert ist“, hatte der damalige Böblinger Landrat Dr. Reiner Heeb zur Freigabe des Autobahnteilstücks zwischen Ehningen und Gültstein gesagt. Es sei das „wichtigste Ereignis des Jahres 1978“ gewesen, erklärt er während des Festakts beim Ehninger Würmtal-Viadukt. Und wie in der Zeitung nachzulesen war, ließ die Übergabe fast vergessen, „daß es sich hier nicht um die Eröffnung der gesamten Bodensee-Autobahn handelte, sondern lediglich um ein gerade 11 km langes Autobahnteilstück bis Herrenberg“.
Mit der Planung einer Autobahn zwischen Stuttgart und Bodensee beschäftigten sich die Straßenbauer bereits vor dem Zweiten Weltkrieg. Bereits anfang der 1960er Jahre seien dann erneut topografische Karten gewälzt und das Gelände erkundet worden. Nach einer Verkehrsuntersuchung seien zwei Haupttrassen zur Debatte gestanden, am Ende hätte der Bundesminister für Verkehr der Westlinie mit einem Trassenverlauf von Leonberg über Herrenberg, Horb, Rottweil und Engen bis nach Singen wegen der „günstigeren Linienführung und besseren Anbindung“ den Vorzug gegeben, lässt sich im „Gäubote“ nachlesen. Und weiter: „Ende der 60er Jahre sind die meisten Entwürfe fertiggestellt, die Planfeststellungsverfahren werden zum Teil schon nach weniger als zwölf Monaten abgeschlossen. Von Geisingen bis Engen rollen die Autos schon 1973, im Gäu werden fünf Jahre später im Rhythmus von einigen Monaten immer wieder Teilstücke der vierspurigen Straße freigegeben.“ Mitte Juni 1978 erfolgt die Freigabe des elf Kilometer langen Autobahnabschnitts zwischen Ehningen und Herrenberg-Süd. Aufgrund der ursprünglichen Planung, bei Gärtringen ein Autobahnkreuz zu errichten, war damals noch die Rede von der Einweihung eines Teilstücks der A 831 von Ehningen nach Gärtringen und des Teilstücks der A 81 von Gärtringen zur Anschlussstelle nach Herrenberg-Süd. Genaugenommen wurden zwei Autobahntrassen eingeweiht. Von den ursprünglichen Plänen zeugt auch noch die bei Gärtringen nach links abgehende Autobahnabfahrt. Hier war ursprünglich geplant, ein Autobahnkreuz zu errichten. Die A 831 sollte in Richtung Nordosten nach Stuttgart führen, die A 81 gen Norden nach Leonberg und gen Süden zum Bodensee. In südwestliche Richtung sollte eine Autobahn oder Schnellstraße nach Nagold abzweigen. Die Trassen nach Leonberg und Nagold wurden nicht umgesetzt. Im Dezember 1978 schließlich wurde der letzte, 42 Kilometer lange Abschnitt der Bodensee-Autobahn – von Rottenburg bis Rottweil – dem Verkehr übergeben.
Mehr als 40 Jahre ist das inzwischen her, doch noch heute sind sich die Gültsteiner sicher, dass die Autobahnanbindung ein Meilenstein in der Geschichte des Herrenberger Teilorts war. „Durch die Autobahn ist Gültstein mittendrin in Baden-Württemberg“, sagt Ortsvorsteher Gerhardt Kauffeldt. „Wir sind von jeder Ecke aus zu erreichen. In einer Stunde ist man am Bodensee. In 20 Minuten im Schwarzwald, im Norden in 20 Minuten in Böblingen und Sindelfingen und in 35 Minuten in Stuttgart.“ Für das produzierende Gewerbe sei das Gold wert. Schon 1965 entwickelte sich das Gültsteiner Gewerbegebiet prächtig. Dem damaligen Bürgermeister Gottlob Wohlbold gelang es in diesem Jahr, die Firma Rigips anzulocken, die in Gültstein ein Gipskartonwerk errichtete. Die neue Autobahnausfahrt Herrenberg, die direkt vor den Toren Gültsteins liegt, verschaffte dem Gipsunternehmen einen Knotenpunkt, von dem aus Gipskartonplatten nach ganz Süddeutschland, Österreich und Norditalien gingen. „330 Mitarbeiter waren dort in der Spitze beschäftigt“, sagt Kauffeldt, der schätzt, dass in all den Jahren sicher 1500 Einwohner dank der Autobahn in Gültstein dazukamen. Heute wohnen dort rund 3 500 Menschen.
Dabei waren zunächst nicht alle Einwohner begeistert von der Idee, eine Autobahn so nah an ihrem Ort zu haben, erinnert sich Willi Hirth – er war bis zum Jahr 2000 25 Jahre lang der erste Ortsvorsteher Gültsteins. „Es gab keine Proteste“, erzählt er, „aber man wollte möglichst wenig landwirtschaftliche Fläche für diese Autobahn verlieren.“ Doch die Zweifel der Anwohner ließen sich schnell nehmen, auch, weil es Ausgleichsmaßnahmen für die betroffenen Landwirte gab. Die Vorteile der neuen Trasse überwogen deutlich: „Es war nun mal einleuchtend, dass durch die Nähe des Autobahnanschlusses Gewerbeansiedlungen günstig wären“, erinnert sich Hirth. In manchen Gemeinden – wie etwa Rohrau – wird allerdings deutlicher Protest laut: Die Lärmbelästigung wird für unzumutbar gehalten.
„Größte Infrastrukturmaßnahme,
die man sich vorstellen kann“
Hirths Nachfolger, Alois Plümper, hält die Autobahn ebenfalls maßgebend für die Entwicklung Gültsteins: „Dass solch eine Autobahn die größte Infrastrukturmaßnahme darstellt, die man sich vorstellen kann, ist klar. Man ist dadurch an das deutsche und internationale Netz angeschlossen.“ Dass die Einwohnerzahl deutlich gestiegen sei, sei das eine, „man muss aber auch die enorme Gewerbeentwicklung sehen“, sagt er. „Da hatte Gültstein einen großen Vorteil durch den Autobahnanschluss, den ich als Unternehmen in unmittelbarer Nähe brauche. Und die Auf- und Abfahrt ist ja auf Gültsteiner Gemarkung.“ Die Firma Hans Höllmüller Maschinenbau war ein weiteres Unternehmen, das sich bald in Gültstein niederließ. Von dort aus produzierte es Ätzmaschinen für die Produktion von Leiterplatten – ohne die es keine Computer geben würde – mit einem Weltmarktanteil von damals mehr als 60 Prozent. Die Maschinen fuhren über die Gültsteiner Anschlussstelle zu den Flughäfen und erreichten Thailand, China und die Vereinigten Staaten. Die Wiege moderner Computertechnik stand damit also gewissermaßen auch in Gültstein. „Die Autobahn ist bis heute praktisch die Versorgungs- und Entsorgungsader für das Gültsteiner Gewerbegebiet. Ohne Autobahn ginge es nicht“, fasst Gültsteins heutiger Ortsvorsteher Gerhardt Kauffeldt zusammen. Seine Begeisterung ist spürbar, wenn er erzählt: „Wir haben ein Unternehmen, das Teile für den Airbus herstellt und ein Unternehmen mit zwei großen Verteilerzentren beliefert mit 60 bis 70 40-Tonnern pro Tag halb Europa mit Nahrungsmitteln aus Osteuropa.“
Autobahn bietet auch Vorteile
für viele weitere Gemeinden
Doch nicht nur aus wirtschaftlichen Gründen bot die Autobahn schon früh Vorteile für die Gültsteiner, sagt Kauffeldt: „Die Jugendlichen hätten ihr Fast-Food-Restaurant nicht bekommen, denn das arbeitet mit einem Tankstellenbetreiber zusammen und ist nur dank der Autobahn ansässig.“ Für ihre Hamburger fuhren die Gültsteiner Jugendlichen vor der Ansiedlung des Schnellimbisses nach Nagold, Tübingen oder Böblingen. Der Vorteil der Autobahnanbindung, ist sich auch Kauffeldt bewusst, betreffe nicht nur Gültstein: „Auch Ortschaften wie Ammerbuch und Bondorf hätten sich ohne die Autobahn nie so entwickelt. Sie ist die Lebensader für die Menschen hier.“