„Ich hatte keine Lust mehr auf Fußball“
Fußball: Der 52-jährige Trainer Jochen Wild kehrte nach langer Kranken- und Leidensgeschichtewieder in den Spielbetrieb zurück.
Lesedauer: ca. 3min 48sec
Der Kampfgeist ist wieder zurückgekehrt: Jochen Wild auf der Holzgerlinger Trainerbank. GB-Foto (Archiv): photostampe
„Wo ist Behle?“: Die älteren Semester unter den Lesern mit einem Faible für den Wintersport werden sich noch an den legendären Ausspruch des ZDF-Sportreporters Bruno Moravetz erinnern, der 1980 während eines Rennens bei den Olympischen Spielen in Lake Placid immer wieder verzweifelt nach dem Langläufer Jochen Behle Ausschau hielt, von seiner Regie aber schlichtweg keine Bilder präsentiert bekam. Der damals 19-jährige deutsche Langläufer erlangte durch diese witzige Anekdote schließlich Berühmtheit.
Auch wenn der Vergleich mit der Langlauflegende ein wenig hinken mag, aber in den vergangenen fünfeinhalb Jahren kam auf den hiesigen Sportplätzen immer wieder die Frage auf: „Wo ist Wild?“. Die Suche nach Jochen Wild erlangte sicherlich nicht den Status seines deutlich berühmteren Namensvetters. Aber jedem, der sich mit dem hiesigen Fußball befasst, ist der ehemalige Kicker der Spvgg. Weil im Schönbuch sowie Trainer und Co-Trainer mehrerer Vereine – unter anderen FC Gärtringen, Spvgg. Holzgerlingen und SV Deckenpfronn – ein Begriff. Zu sehen war vom Schönaicher in den vergangenen Jahren, nach dem Ende seiner letzten Trainertätigkeit beim Calwer A-Ligisten SV Schönbronn, aber gar nichts mehr. „Ich hatte keine Lust mehr auf Fußball“, machte sich der heute 52-Jährige freiwillig rar.
Seiner selbst auferlegten Pause folgte schließlich die coronabedingte Unterbrechung. „Zuerst wollte ich nicht mehr auf die Sportplätze, dann durfte ich nicht mehr und am Ende konnte ich nicht mehr“, fasst Jochen Wild die vergangenen Jahre zusammen. Vor allem die Phase des Nicht-mehr-Könnens hat sich bei ihm tief eingebrannt, blickt er doch auf eine gesundheitliche Leidenszeit zurück, die ihn hat an vielem zweifeln lassen. Ende 2020 setzten zunächst immer wieder Bauch- und Rückenschmerzen ein, die kurzzeitig mittels Arzneimitteln gelindert wurden. Anfang 2021, als er plötzlich Blut spuckte und auch der Urin dunkelrot unterlaufen war, erkannte er die Dringlichkeit und ließ sich von seiner damaligen Lebensgefährtin Nicole ins Krankenhaus fahren.
In Böblingen erkannten die Ärzte, dass Jochen Wilds Gallenblase aufgrund eines Gallensteins kurz vor dem Platzen stand, was mit hoher Wahrscheinlichkeit eine Blutvergiftung nach sich gezogen hätte. Mit dem Entfernen des Störfaktors war es aber noch lange nicht getan. „Meine Entzündungswerte waren katastrophal“, ging es Jochen Wild immer schlechter. Die Ärzte fanden die Ursache: eine Entzündung der Bauchspeicheldrüse, eine sogenannte Pankreatitis. Außerdem wurde eine 7,5 Zentimeter große Zyste entdeckt. Ihm wurden Stents gesetzt, in mehreren Operationen Gewebe entfernt.
Die Hoffnung auf Besserung der Situation hielt aber erneut nur ein paar Tage an. Jochen Wild war mittlerweile auf 66 Kilogramm abgemagert, so dass ihn auch der leitende Arzt der Chirurgie nicht wieder erkannte. „Wir kannten uns, er hatte mich nur ganz anders in Erinnerung“, kann Jochen Wild heute darüber lachen. Im Nachhinein bezeichnet es der 52-Jährige als „großes Glück, dass in der Gastroenterologie zu Corona-Zeiten kein freies Bett mehr zu finden war“ und er dadurch in die Chirurgie verlegt werden musste. „Der Arzt machte sich zu Beginn einen Spaß, als er meinte, ich hätte hier nur Asyl, aber er hat sich meiner Geschichte angenommen und mir sofort ein anderes Antibiotikum verschrieben.“
Tatsächlich ging es danach schnell bergauf. Jochen Wilds Gallenblase wurde entfernt, und als nach dem insgesamt 19. endoskopischen Eingriff auch die Entzündung abgeklungen war, hatte er wieder Land in Sicht. „Schon zwei Tage später saß ich auf dem Ergometer“, war sein Kampfgeist zurückgekehrt. Auch seiner Arbeit bei einem Elektronikunternehmen in Deckenpfronn konnte er wieder schmerzfrei nachgehen. Sehr hilfreich sei in all der Zeit gewesen, dass er die volle Unterstützung seitens des Arbeitgebers hatte. „Mein Chef sagte mir im Frühjahr 2021, ich solle mir um meinen Job keine Sorgen machen und erst wieder zurückkehren, wenn ich gesund sei.“ Im Juli letzten Jahres war das wieder der Fall.
Von seiner Lebensgefährtin, die er bereits vor der Corona-Zeit heiraten wollte, erbat er sich parallel dazu noch ein weiteres Jahr Aufschub. „Ich wollte derart ausgemergelt nicht vor den Altar treten.“ Im vergangenen August war es dann so weit: Mit 82 Kilogramm und „fit wie lange nicht mehr“ führte er seine Nicole in den Hafen der Ehe. Sein Happy End komplett machte schließlich auch die Rückkehr auf den Sportplatz. Als im vergangenen Herbst Alex Thies seinen Posten als Spielertrainer der Spvgg. Holzgerlingen II zur Verfügung stellte, schrieb Jochen Wild ohne Hintergedanken seinen ehemaligen Spieler Patrick Orifiamma an, und fragte, was denn los sei. „Er erklärte kurz den Stand der Dinge und meinte, dass ich übernehmen müsse.“
Eine Rückkehr an die alte Wirkungsstätte – konnte er sich die vorstellen? Einst war er Co-Trainer bei der ersten Holzgerlinger Mannschaft unter Chefcoach Bernd Gluiber, der auch jetzt wieder das Zepter beim Bezirksligisten schwingt. Die Idee, die Reserve in der Kreisliga A2 zu übernehmen, nahm schnell an Fahrt auf. „Patrick hatte die Info bereits an den Sportlichen Leiter Frank Gscheidle weitergegeben, der mich tags drauf schon kontaktierte.“ Als Wild ein paar Tage später mit Frank Gscheidle und Abteilungsleiter Jürgen Conforti „ein überragend gutes Gespräch“ führte, war er sofort Feuer und Flamme. Es fehlte lediglich noch die Zustimmung seiner Frau. „Nicole und ich sind gemeinsam durch dick und dünn gegangen, ohne ihr Okay hätte ich es nicht gemacht.“ Ihrem „Mach es!“ folgte schließlich die Zusage. Und seit Anfang Oktober heißt es nun wieder auf den hiesigen Sportplätzen: „Da ist Jochen Wild!“