„Ich spiel dann jetzt“
Sicherlich, die „Weisweiler-Elf“ die am heutigen Samstagnachmittag zu einem Benefizspiel beim TV Gültstein (16 Uhr) aufläuft, zählt schon zu der nachgeborenen Elf, die vom Mythos der Elf aus den 70er Jahren zehrte. Warum Borussia Mönchengladbach zu einem legendären Fußballverein wurde, liegt auch an einer Reihe von Kuriositäten, die in der heutigen Profi-Fußballwelt schlichtweg undenkbar sind.
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Günter Netzer (links) und Trainer Hennes Weisweiler standen bis 1973 für die erfolgreiche Ära von Borussia Mönchengladbach GB-Foto (Archiv): Sven Simon
Die „Fohlen-Elf“ – Wilhelm August Hurtmanns, Sportredakteur der „Rheinischen Post“, verfolgte hautnah den Aufstieg von Borussia Mönchengladbach von der Regionalliga West bis zur Bundesliga 1965. Mit einem Durchschnittsalter von 21,5 Jahren stürmte Mönchengladbach in die Eliteklasse. Der damals schon als sehr erfahren geltende Trainer Hennes Weisweiler hatte früh schon sein Gespür für junge, aufstrebende, aber unbekannte Talente entwickelt. In der Aufstiegself vertraute er Spielern wie Herbert Laumen, Jupp Heynckes (erst 20 Jahre alt), Bernd Rupp und Günter Netzer. Die ungezügelte Spielweise, die Leichtfüßigkeit, mit der diese Elf nach vorne agierte, sei, so Hurtmanns, „wie bei jungen Fohlen“. Die Marke war geboren.
Der erste Titel – Die Bundesliga-Saison 1969/70 war in zweierlei Hinsicht denkwürdig. Am 10. Januar 1970 musste ein kompletter Spieltag wegen Eis und Schnee abgesagt werden. Um dem Millionengeschäft mit dem runden Leder solch Wetter-Ungemach zu ersparen, wurden ab diesem Zeitpunkt sukzessive die Stadien mit Rasenheizung ausgestattet. Und: In diesem Jahr holte die Weisweiler-Elf, die ihren unnachahmlichen Offensivdrang mit einer endlich soliden Defensivleistung paarte, mit vier Punkten Vorsprung vor dem FC Bayern München. Von Weisweiler ist ein Spruch überliefert: „Fußball muss Spaß machen. Ein 5:4-Sieg ist doch schöner als ein 1:0.“ Als Gladbach 70/71 wieder die Schale holte, schafften sie als erster Club überhaupt die Titelverteidigung im Folgejahr. Die Kicker vom Niederrhein waren in der Beletage der Bundesliga endlich angekommen.
Laumen im Netz – Die zweite Meistersaison von Borussia brachte das erste Kuriosum hervor: Am 27. Spieltag, beim Heimspiel von Mönchengladbach gegen Werder Bremen, bracht beim Stande von 1:1 das Tor zusammen. Damals wurde noch auf eckige Holztore gespielt. Der zum Kopfball hochsteigende Herbert Laumen flog samt dem den Ball abwehrenden Werder-Keeper Günter Bernard ins Tornetz. Der linke Torpfosten brach direkt über dem Boden ab. Ein Ersatztor war – obwohl vorgeschrieben – nicht vorhanden und nach zwölf Minuten pfiff Schiedsrichter Gert Meuser ab. Festgehalten wurde allerdings, dass sich die Gladbacher Ordnungskräfte kaum über die Wiederaufrichtung des Tores bemühten, so wertete der DFB die Partie für Bremen mit 2:0 als gewonnen. Spitzenreiter Gladbach musste bis zum letzten Spieltag um den Titel zittern. Herbert Laumen wurde durch den Pfostenbruch berühmt: „Seitdem gibt es die Aluminiumtore.“
Der Büchsenwurf vom Bökelberg – In der zweiten Europapokal-Saison 1971/72 gelang Mönchengladbach am 20. Oktober 1972 im Achtelfinal-Hinspiel gegen das europäische Spitzenteam Inter Mailand Unglaubliches. Das Team um Berti Vogts und Günter Netzer überrollte den italienischen Meister, der nicht wusste, wie ihm geschah, mit 7:1. Netzer später: „Wir waren wirklich nicht zu bremsen.“ Allerdings: Beim Stand von 2:1 für Mönchengladbach wurde Inter-Stürmer Roberto Boninsegna von einer leeren Limonadendose, die von der Zuschauertribüne aufs Feld geworfen wurde, angeblich am Kopf getroffen und verletzt ausgewechselt. Die Uefa annullierte das Spiel. Eine Glanzleistung, die nicht einmal im deutschen Fernsehen übertragen wurde, weil Borussia-Manager Helmut Grashoff sich mit der ARD wegen der Übertragungskosten nicht einig wurde, war damit nichtig. Auf neutralem Platz in Berlin spielte Gladbach nur 0:0 und war nach einer 2:4-Niederlage in Mailand im Rückspiel ausgeschieden.
Selbst eingewechselt – Hennes Weisweiler war schon vor seiner Zeit in Gladbach eine Legende als Oberliga-Spieler und Trainer beim 1.FC Köln. Deshalb waren Derbys gegen seinen „Heimatclub“ – an der Kölner Sporthochschule bildete er von 1957 bis 1970 Fußballlehrer aus – stets eine Herzensangelegenheit. Legendär wurde das DFB-Pokalendspiel am 23. Juni 1973 im Düsseldorfer Rheinstadion. Der vor einem Wechsel zu Real Madrid stehende Günter Netzer musste in seinem letzten Spiel für Borussia die Ersatzbank drücken. Wegen seiner mangelhaften körperlichen Verfassung sollte der Regisseur zur Halbzeit eingewechselt werden, doch die Gladbacher Elf um Netzer-Stellvertreter Christian Kulik machte bei brütender Hitze ein Riesenspiel. Netzer lehnte ab. Das Spiel ging mit 1:1 in die Verlängerung. Die Fotografenschar belagerte die Gladbacher Bank, da das ganze Stadion sah, dass Weisweiler den Spielmacher nicht einwechseln wollte. Als Kulik gegenüber Netzer andeutete, dass er platt war, streifte Netzer die Trainingshose ab, ging an der Trainerbank vorbei und meinte zu Weisweiler nur: „Ich spiel dann jetzt.“ Nur drei Minuten nach seiner Selbst-Einwechslung erlief Netzer einen weiten Ball von Rainer Bonhof, erwischte ihn nicht einmal richtig mit dem linken Außenspann und der Ball sauste zum 2:1-Siegtor in den Winkel. Als Netzer später als erfolgreicher Manager des Hamburger SV diese Kuriosität bewerten musste, meinte er lakonisch: „Der Spieler hätte eine Strafe bekommen müssen, denn er hat gegen alle Regeln verstoßen. Ich als Manager hätte das lächelnd verkündet …“
Letzter Triumph – Mit dem Bau des Olympiastadions in München geht die Schere zwischen den beiden Superclubs der 70er Jahre, Borussia Mönchengladbach (fünf Meistertitel) und München (dreimal Europapokal-Sieger der Landesmeister), auseinander. Da das Bökelbergstadion mit lediglich 34500 Zuschauern zu klein war, musste Gladbach über Jahre hinweg versuchen mit Spielerverkäufen – eine der bekanntesten wurde Calle del Haye zum Erzrivalen Bayern für die damalige Rekordablöse von 1,3 Millionen Mark – mitzuhalten. München generierte dagegen ganz andere Einnahmen. Im Spieljahr 1978/79 gewann Mönchengladbach zum zweiten Mal den Uefa-Cup, mit 1:0 über Roter Stern Belgrad. Das entscheidende Tor erzielte Allan Simonsen per Foulelfmeter, der Stürmer wechselte nach dieser Saison für 1,3 Millionen Mark zum FC Barcelona. Und Borussia-Kapitän Berti Vogts erwies sich bei der Siegesfeier in der Kabine als Prophet: „Schaut euch diesen Pokal genau an, es wird lange Zeit der letzte sein, den ihr in den Händen haltet.“ Es war der letzte Triumph auf internationaler und bis auf den Pokalsieg 1995 auch auf nationaler Ebene. Ende der 70er Jahre war der Club aber dennoch längst ein Mythos. -gb/asg-